In einer Welt voller unterschiedlicher Erzählungen, Meinungen und politischer Standpunkte, die miteinander im Wettbewerb stehen, strahlt die angebliche Mitte eine unglaubliche Anziehungskraft aus. Sie gilt als vermeintliche Position zwischen den Extremen, wo sich die Argumente gegenseitig aufheben, der Pragmatismus seinen Höhepunkt erreicht und sich die Gemäßigten versammeln. Denn die Wahrheit liegt ja angeblich „irgendwo in der Mitte“, richtig? Die Antwort ist bei einer solchen Verallgemeinerung selbstverständlich: Nein. Weder in der Wissenschaft noch in der Politik oder Philosophie trifft dies immer zu. Sprichwörter sind selten gute Ratgeber – und in diesem Fall ist die Regel nicht nur falsch, sondern führt auch mit Sicherheit zu den schlechtesten Ergebnissen.
Angenommen, wir lebten im England des späten 18. Jahrhunderts. Dort gab es die Konservativen bzw. Rechten, die aus wirtschaftlichen oder rassistischen Gründen vehement für die Sklaverei eintraten. Dann gab es die Reformisten und Zentristen, die sich für eine „Sklaverei mit menschlichem Antlitz“, also bessere Arbeitsbedingungen für Sklaven, einsetzten. Und schließlich gab es die absolute Minderheit der Radikalen – als wäre die Position der anderen nicht radikal gewesen –, die bedingungslos für die Abschaffung der Sklaverei kämpften. Hätte ein Abolitionist, also jemand, der für die Abschaffung ist, auf der Straße seine Meinung kundgetan, hätte er wenig Unterstützung erfahren. Die Mehrheitsmeinung war das Gegenteil, und jene in der Mitte hätten wohl moralisch zugestimmt, aber die Forderung als zu radikal, realitätsfern und utopisch abgetan und stattdessen Reformen gegenüber der Revolution bevorzugt.
Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass die Mitte oder die Mittepolitik nicht automatisch die Mehrheitsmeinung repräsentiert, auch wenn dies oft suggeriert wird. In Österreich gibt es seit Jahrzehnten eine deutliche Mehrheit für die Einführung von Reichensteuern, doch die meisten Parteien lehnen sie ab. Ähnliches gilt für ein öffentliches Gesundheitssystem in den USA, die Legalisierung von Cannabis in Frankreich oder das Recht auf Abtreibung in Polen. Die Mittepolitik ist daher vielmehr die Politik einer wirtschaftlich, medial und politisch mächtigen Minderheit, die zudem von der allgemeinen Verschiebung der politischen Debatte nach rechts profitiert. Während früher selbst in Bayern in der Landesverfassung festgeschrieben stand, dass „die Erbschaftssteuer auch dem Zweck dient, die Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen Einzelner zu verhindern“, gilt eine solche Position heute als linksradikal.
Wie so oft haben wir Menschen aus der Vergangenheit wenig gelernt und die Verdienste jener vergessen, denen wir viele der großen Errungenschaften der Menschheit verdanken. Das Ende der Sklaverei, Frauenrechte, Menschenrechte, das Verbot der Kinderarbeit, die Etablierung von Arbeiterrechten, Höchstarbeitszeiten, Pensionen oder Demokratie – all dies wurde nicht von Politikern der Mitte erkämpft. Es waren jene am Rand, und es war immer der linke Rand, der sich trotz des Gegenwinds von Rechts bis Mitte für seine Überzeugungen einsetzte und sich nicht mit faulen Kompromissen zufriedengab.
Wie hätte ein Mensch mit Anstand und Rückgrat beim Thema Sklaverei einen Kompromiss schließen sollen? Wer der Überzeugung ist, dass Sklaverei moralisch abzulehnen und daher zu verbieten ist, kann keinen Mittelweg zwischen Abschaffung und Beibehaltung akzeptieren. Würde ein „linker Mittepolitiker“ von heute damals gelebt haben, hätte er wohl versucht, sich als moralisch überlegener Gegner der Sklaverei zu präsentieren – aber gleichzeitig betont, dass es pragmatische Lösungen brauche. Also hätte er vorgeschlagen, dass ein Sklavenhalter nur noch höchstens 1.000 Sklaven besitzen und ihnen maximal 50 Peitschenhiebe pro Tag verabreichen dürfe – als „ersten Schritt“ hin zur Abschaffung. Der Sklavenhalter, der ohnehin wusste, dass das Ende der Sklaverei nicht mehr aufzuhalten war, hätte dankend zugestimmt. Er hätte sich damit sogar als kompromissbereit und konstruktiv inszenieren können, während die tatsächlichen Abolitionisten als kompromisslos und destruktiv diffamiert worden wären. Natürlich hätten die Medien, damals wie heute in der Hand reicher und mächtiger Menschen, ihren Teil zur propagandistischen Meisterleistung beigetragen.
Die Mittepolitik ist nichts Neues – nur das Ausmaß dieser Epidemie hat sich massiv ausgeweitet. So hatte auch Martin Luther King schon ähnliche Ansichten über die Zentristen, als er 1963 in einem Brief aus dem Birmingham-Gefängnis folgendes schrieb:
„Ich bin fast zu dem bedauerlichen Schluss gekommen, dass das große Hindernis für den Neger auf seinem Weg in die Freiheit nicht der Weiße Bürgerrat oder der Ku-Klux-Klaner ist, sondern der weiße Gemäßigte, der der „Ordnung“ mehr zugetan ist als der Gerechtigkeit; der einen negativen Frieden, der die Abwesenheit von Spannungen ist, einem positiven Frieden, der die Anwesenheit von Gerechtigkeit ist, vorzieht; der ständig sagt: „Ich stimme mit Ihnen überein in dem Ziel, das Sie anstreben, aber ich kann nicht mit Ihren Methoden der direkten Aktion übereinstimmen“; der paternalistisch glaubt, den Zeitplan für die Freiheit eines anderen Menschen festlegen zu können; der nach einem mythischen Konzept von Zeit lebt und der dem Neger ständig rät, auf eine „günstigere Zeit“ zu warten. “ Seichtes Verständnis von Menschen guten Willens ist frustrierender als absolutes Unverständnis von Menschen schlechten Willens. Lauwarme Akzeptanz ist viel verwirrender als völlige Ablehnung“.
Eine weitere Problemfacette der Mittepolitik ist die Tatsache, dass die meisten Mittepolitiker selbst gar nicht von den Problemen betroffen sind, die sie vorgeben zu lösen. Das macht es ihnen umso leichter, „von ihrer Position“ etwas aufzugeben. So haben Politiker der Mitte Kriege auf Lügen aufgebaut, völkerrechtswidrig geführt und dabei Hunderttausende Unschuldige getötet. Sie haben Waffen an die brutalsten Regime der Welt verkauft und Milliardengewinne damit gemacht. Sie haben den Finanzsektor entfesselt, was zu einem der schlimmsten Wirtschaftszusammenbrüche der Geschichte führte. Sie setzten eine Sparpolitik durch, die Hunderttausende das Leben kostete und Millionen ins Elend stürzte – während mit öffentlichen Geldern Banken und Konzerne gerettet wurden. Sie sahen zu, wie Zehntausende im Mittelmeer ertranken – und das alles, während sie eine immer größere Ungleichheit schufen. Doch so tragisch all diese Verbrechen und Versäumnisse sind, das Problem der Mittepolitik reicht tiefer. Wenn wir die Wissenschaft ernst nehmen – und das müssen wir –, dann steht nichts Geringeres als das Überleben unserer Zivilisation auf dem Spiel. Es braucht eine radikale und sofortige Neudefinition dessen, was als politische Mitte akzeptabel ist – und was nicht.
„Aber besser einen Schritt in die richtige Richtung als gar nichts tun!“ kommt oft als Argument von Anhängern der Mittepolitik. Die Antwort ist klar „Nicht jeder Schritt ist ein Schritt nach vorne. Es gibt auch Rückschritte.“ Nehmen wir als ein ganz banales und lebensnahes Beispiel die zurzeit modernen Begegnungszonen. Statt das Ziel von autofreien Straßen und Bezirken in Städten weiter zu verfolgen, gehen angeblich fortschrittliche Politiker den Weg des geringsten Widerstandes und opfern für schnelle parteipolitische und persönliche Erfolge das eigentliche Ziel. So werden für sehr viel Geld Straßen umgebaut, Parkplätze gestrichen, Gehsteige abgesenkt und ein paar Bäumchen gepflanzt. Das schaut auf den ersten Blick oft sogar schön aus, aber in der Realität parken nun die Autos auf den Gehsteigen inkl. Blindenstreifen und Fußgänger, vor allem mit Rollstühlen oder Kinderwägen müssen nun auf die Straße ausweichen. Sicher sind die Menschen nun auch am Gehsteig nicht mehr und der Name wird Programm: Die direkte Begegnung zwischen Mensch und Auto. Der „Kompromiss“ der Begegnungszone ist somit in der Tat eine Verschlechterung für alle und auch eine politische Niederlage für beide Seiten. Sie völlig nutzlos und zum Nachteil der Menschen wie ein weißer Elefant und haben einzig als Hintergrund für Fotos von stolzen Mittepolitikern einen Verwendungszweck.
Neben dem Schaden für realpolitische Veränderung bewirkt Mittepolitik auch einen Schaden an Moral und Aufrichtigkeit. Denn um einen Kompromiss zwischen zwei Positionen überhaupt suchen zu können, muss man die Legitimität beider anerkennen. Nehmen wir zwei Personen an, von denen eine friedfertig ist, während die andere ihr zehnmal mit der Faust ins Gesicht schlagen will. Wenn wir neben der Friedfertigkeit auch die Gewalttätigkeit als legitime Position anerkennen, wäre die Mittelösung, dass der Gewalttäter dem Friedfertigen fünfmal ins Gesicht schlagen darf. Die Absurdität dieser Lösung dürfte offensichtlich sein: Ein Standpunkt, der auf Unrecht basiert, ist keiner. Zumindest keiner, der als legitim bezeichnet werden kann. Anerkennen wir ihn trotzdem, geben wir ihm die fehlende Legitimität und machen aus etwas, das gar nicht existieren sollte, eine valide Position.
Genau das können wir beim Ukrainekrieg und der Position von Putins Russland seit Monaten live mitansehen. Putin ist rechtlich wie moralisch gesehen der Gewalttäter, dessen Position völlig inakzeptabel ist und trotzdem wird von allen westlichen Nationen „anerkannt“, dass eine Lösung des Krieges nur mit einem „Kompromiss“ möglich ist. Also dem Täter zumindest einen Teil der Ukraine abzutreten, wie wir es de facto alle auch schon mit der Krim getan haben. Aus Unrecht wird Recht, weil wir zu feige und ideenlos sind, für unsere Ideale und das Völkerrecht aufzustehen und etwas zu riskieren. Auch wenn der Ukrainekrieg vielleicht dadurch von einem heiße zu einem kalten Konflikt wird und das tägliche Sterben zumindest pausiert wird, wurde der Konflikt in keiner Weise gelöst. Nicht nur wurde aus Unrecht Recht gemacht, es wurde auch den Gewalttätern dieser Welt gesagt, was alles möglich und legitim ist und China mit seinem fixierten Blick auf Taiwan hat gut zugehört.
Das gleiche Prinzip müssen wir auf alle politischen Debatten anwenden, indem wir politische Positionen und auch Lösungen auf ihre Legitimität überprüfen. So wie es uns heute vollkommen logisch erscheint, dass die Befürwortung von Kinderarbeit, Sklaverei oder des alleinigen Männerwahlrechts nicht legitim ist und daher auch kein Entgegenkommen erfordert, müssen wir aktuelle politische Fragen mit derselben Klarheit angehen.
Dieser Text ist kein Plädoyer für die Kompromisslosigkeit. Er ist als Weckruf an die „Mitte“ dieser Welt, die den Kompromiss als höchstes politisches Gut ausgerufen haben, ohne sich der Absurdität und Tragweite dieser Position auch nur annähernd bewusst zu sein. Er ist ein Zuspruch an jene Kompromisslosen der Geschichte, denen wir die Menschenrechte, Demokratie oder Frauenrechte zu verdanken haben und jene Kompromisslosen von heute, wegen denen wir diese zumindest in weiten Teilen heute noch genießen dürfen. Er ist eine Aufforderung an die schweigende Mehrheit, die sich noch immer alle Optionen offen halten wollen, nicht mehr länger zu warten, denn unsere Realität ist heute schon kompromisslos.
Die billige Option, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen und es damit vermeintlich allen recht zu machen, gab es nie. Sie ging immer zu Lasten der Machtlosen, zu denen aber in der heutigen, oligarchischen Phase des Kapitalismus´, die breite Mehrheit gehört. Ihnen gegenüber stehen extrem reiche, mächtige und kompromisslose Menschen, sowie deren Unternehmen und Medien. Sie sind zu keinen Kompromissen bereit und was uns als Mittepolitik verkauft wird, sind in der Tat zur Gänze die Interessen jener 1-Prozent. So wie schon zu Zeiten des Adels, als wir aber zumindest von der Farce verschont blieben, dass uns diese Politik als die unsere verkauft wurde.