Jeden Tag werden in Griechenland Menschen geschlagen, ihrer Rechte und Wertgegenstände beraubt, entführt und illegal deportiert. Jeden Tag werden diese Kapitalverbrechen und internationalen Rechtsbrüche durch die griechische Polizei und Küstenwache begangen und von oberster Stelle beauftragt und finanziert. Ab sofort sind dies nicht mehr nur Anschuldigungen, sondern auf Video festgehaltene Tatsachen, die ich gemeinsam mit der New York Times veröffentlich habe.
Es ist 5:34 als Mortasar[1] mit einem Schlauchboot gemeinsam mit 13 anderen Menschen auf Lesbos ankommt. Bald wird die Sonne aufgehen und Mortasar, seine Frau Sarah, ihre gemeinsame 5 jährige Tochter Amira und Mortasars 13 und 16 jährige Brüder müssen sich beeilen. Sie müssen die Dämmerung nutzen um möglichst unentdeckt weit weg vom Strand zu kommen. Irgendwo in das Gestrüpp an den Bergen oder in die Olivenhaine wollen sie. Dorthin wo sie „the bad guys“ nicht finden, bis die „good guys“ da sind.
„The bad guys“ ist niemand anderer als die griechische Polizei und Küstenwache. Sie kommen nicht in ihrem rechtsstaatlichen Auftrag, nicht in Uniform und nicht mit Polizeiwagen, sondern benutzen Zivilkleidung, Sturmmasken und Autos ohne Kennzeichen. Nach Ankünften von Booten auf Lesbos, Chios, Samos, Leros, Kos und anderen Inseln kommen sie, um die Angekommenen zu jagen, zu fangen sowie zu fesseln, zu kidnappen, einzusperren, ihnen ihr Recht auf einen Asylantrag zu verwehren, und um sie schlussendlich illegal zu deportieren, auf einer manövrierunfähigen Rettungsinsel auszusetzen und dort ihrem Schicksal zu überlassen. Sie tun das täglich und haben in den letzten drei Jahren auf diese Weise tausende Menschen deportiert, wie sich von den offiziellen Aufgriffen der türkischen Küstenwache nachvollziehen lässt.
Mortasar und seine Familie sind seit 7 Monaten auf der Reise, wenn man ihre Flucht aus Afghanistan so nennen kann. Zuerst ging es in den Iran und mit Autos und Buses an die türkische Grenze. Dort wurden weitere Schlepper bezahlt, die sie über die Grenze und über viele Umwege nach Izmir brachten. In Izmir arbeitete Mortasar und sein zweiältester Bruder so viel es ging um das Geld für die Weiterreise zu sparen. 5.000 Euro für die ganze Familie.
Sie klappte bei Mortarsar und seiner Familie beim ersten Mal. Ein unfassbares Glück, das nicht viele haben. Jene, die die griechische Küstenwache an der Seegrenze zur Türkei von der Einfahrt in griechische Hoheitsgewässer hindert. Oft werden dabei von der griechischen Küstenwache mit langen Metallstangen die Motoren der Schlauchboote zerstört und die Menschen ihrem Schicksal überlassen. Es ist immer die türkische Küstenwache, die die Menschen rettet und wieder zurück in die Türkei bringt.
Die Sonne geht langsam auf während Mortasars Gruppe die Küste hoch ins Landesinnere wandert. Beladen mit all ihren Habselligkeiten, den Kleinkindern im Arm und teilweise ohne Schuhen, die bei der Überfahrt über Bord gingen. Nach zwei Kilometer sind sie erschöpft und hoffen im Dickicht nicht gefunden zu werden. Die Gruppe bestehend aus 13 Menschen hat Glück an diesem Tag. Einer der „good guys“ findet sie, informiert UNHCR und die Behörden und bleibt solange bei den Leuten, bis sie offiziell registriert sind und das Lager Megala Therma zur Quarantäne gebracht werden. Sie können dort ihren Asylantrag stellen und sind nun offiziell Asylsuchende.
Für viele andere endet die Ankunft in der EU mit schwersten Verbrechen und Menschenrechtsbrüchen. So wie für Aisha und ihre 6 Monate alte Tochter Carla[2] aus Somalia. Als sie am 11. April 2023 auf Lesbos landen, sind die „bad guys“ sehr schnell. Um 8:17 tauchten dunkel gekleidete, mit Sturmhauben maskierte Männer auf. An ihren Gürteln hingen massenweise Kabelbinderhandschellen.
Wie konnten sie sie so schnell finden? Zum einen weiß die griechische Küstenwache durch ihre massive Überwachung der Seegrenze zur Türkei mittels Wärmebildkameras an Land, Patrouillenbooten sowie mit tatkräftiger Unterstützung von Frontex immer sehr genau, wann und wo Boote fahren. Oft ist aber das Küstenwacheboot zu langsam, um die Geflüchteten unmittelbar wieder in die türkischen Hoheitsgewässer zurückzudrängen. Somit kann das Flüchtlingsboot eine griechische Insel erreichen. Der Anlegeort wird sofort an die Polizei und die Küstenwache an Land weitergegeben und die Entführerkommandos machen sich auf den Weg. Vor Ort lässt die Küstenwache dann eine Drohne mit Wärmebildkamera aufsteigen und für die Geflüchteten gibt es kein Verstecken und Entkommen mehr. So finden sie auch Aisha und ihre Gruppe von zehn weiteren Menschen, darunter fünf Minderjährige.
Die Maskenmänner schreien Aisha und ihre Leidgenossen auf English an, in den Van zu steigen. Davor nehmen sie ihnen ihre Mobiltelefone und alles Bargeld ab – eine gängige Praxis in Griechenland. Untereinander sprechen die Maskenmänner griechisch. Die Geflüchteten werden zu einem Van gebracht. Ein weißer ist es an diesem Tag. An anderen Tagen ist er dunkelblau oder grün, aber immer ohne Fenster bei der Ladefläche, keine Kennzeichen und Riegel sowie Vorhängeschloss an der Hintertür. Nachdem die Gefangenen verladen sind, setzt sich der Konvoi aus dem Van, zwei Wagen ohne Kennzeichen und einem Kombi mit Kennzeichen mit hoher Geschwindigkeit Richtung Süden von Lesbos in Bewegung.
„The good guys“ haben an diesem Tag das Rennen um die Geflüchteten verloren. Als sie am Tatort ankommen, sind nur mehr Rucksäcke, Windeln, Kleidung, Ausweise und Einweghandschuhe zu finden. Die „good guys“, das sind einige wenige engagierte Aktivisten, die noch zu sogenannten Landings fahren. Die meisten tun das schon lange nicht mehr, weil die griechische Justiz mit allen Mitteln gegen die Helfer vorgeht und sie zumindest wegen Beihilfe zu Schlepperei anklagt. Seit knapp einem Jahr fährt auch Ärzte ohne Grenzen zu Landings. Sind also die „good guys“ zuerst bei den Geflüchteten, brechen die Entführer ihren Einsatz ab und ziehen sich zurück beziehungsweise fliehen regelrecht. In einem Fall führte das dazu, dass fixfertig gefesselte Geflüchtete von einem Ärzte-ohne-Grenzen-Team gefunden wurden.
Rund eine Stunde dauert die Fahrt von Aisha, Carla und ihrer Gruppe ins Ungewisse.Ein paar Minuten nach dem Stopp wird die Hintertür geöffnet. Die Geflüchteten können nichts erkennen, zu grell ist die Mittagssonne nach einer Stunde in völliger Dunkelheit. Noch während sich ihre Augen an das Licht gewöhnen, werden die Geflüchteten aus dem Van und eine kurze Schotterstraße runter zu einem Strand getrieben. Sie befinden sich in einer Bucht, in der es außer einer Luxusvilla, einem kleinen Holzsteg und einem Schnellboot nichts gibt . Die Menschen werden auf das Boot getrieben und müssen sich hinsetzen und ducken, damit sie von außen nicht sichtbar sind.
Als alle verladen sind, legt das Boot ab und macht sich mit hoher Geschwindigkeit auf den Weg aus der Bucht. Der Van wendet und verlässt die Schotterstraße ebenfalls Richtung Norden. Nur ein Wagen mit zwei Polizisten, einer davon in Uniform bleibt zurück, um ungebetene Gäste von der Bucht fernzuhalten. Am Ende der Bucht wartet schon ein Schiff der griechischen Küstenwache, der Hellenic Coast Guard, um die Entführungsopfer zu übernehmen und die illegale Deportation einzuleiten.
Aisha und ihr Baby sowie die anderen aus ihrer Gruppe müssen auf das Schiff der griechischen Küstenwache klettern, werden zum vorderen Teil des Schiffes geführt, wo sie unter Deck gehen müssen. Nach fünf Minuten ist alles erledigt. Das Schnellboot fährt mit hoher Geschwindigkeit Richtung Westen davon, das Schiff der Küstenwache fährt nach Osten, Richtung Türkei.
Nur 30 Minuten später erreicht das Schiff sein Ziel: die Seegrenze zur Türkei. Dort bläst die Besatzung des Schiffes eine Rettungsinsel auf und führt ihre Gefangenen wieder an Deck, von wo sie auf die Rettungsinsel klettern müssen. Sobald alle das Schiff verlassen haben, fährt dieses noch eine Stunde auf und ab, vermutlich um Wellen zu erzeugen und die Rettungsinsel Richtung Türkei zu treiben. Um 14:30 Uhr wird die Rettungsinsel schließlich von zwei Schiffen der türkischen Küstenwache gefunden, die über jeden dieser Aufgriffe penibel – inklusive Fotos und Videos auf ihrer Webseite – berichtet.
Die Geflüchteten werden an Bord genommen und in den Hafen von Izmir Dikili und von dort nach Izmir gebracht, wo sie rund zwei Wochen von den Behörden festgehalten werden.
Immer wieder enden diese illegalen Aussetzungen tödlich. Wind und Wetter auf See völlig ausgeliefert, kentern oder sinken die Rettungsinseln auch immer wieder: Für viele Nichtschwimmer und Kinder unter den Geflüchteten der sichere Tod, so wie am 3. September 2022, als sechs Menschen ihre illegale Deportation nicht überlebten.
Doch es gibt einen großen Unterschied zwischen den Verbrechen an Aisha, ihrer Tochter und dem Rest ihr Leidesgenossen zu den vielen anderen Entführungen und Deportationen: Dieses Mal, zum aller ersten Mal überhaupt, wurden diese Verbrechen gefilmt. In jedem Detail ist zu erkennen, was oben beschrieben wurde.
Nach langer Recherche, die in dieser verdeckten Videoaufzeichnung gipfelten, welche die an die New York Times weitergegeben wurde, konnten Reporter der Zeitung Aisha, Carla und neun weitere Personen aus ihrer Gruppe finden, interviewen und bestätigen, dass diese nun wieder in der Türkei sind.
Raub, Entführung, Freiheitsberaubung, Verweigerung eines Asylantrages, illegale Deportation und das Aussetzen von Menschen in einer manövrierunfähigen Rettungsinsel. All diese, unter anderem Kapitalverbrechen, werden von der griechischen Polizei und Küstenwache praktisch täglich auf den ägäischen Inseln sowie am Evros, dem Grenzfluss zwischen Griechenland und der Türkei verübt. Staatlich organisierte Schwerstverbrechen, denn anders ließen sich solche Operationen niemals über Jahre durchführen. In großen Teilen finanziert durch die EU, oft beobachtet von Frontex und ignoriert vom griechischen Militär, dessen Augen nichts auf den Hotspot-Inseln entgeht.
Der New York Times Artikel, sowie dieser Text liefern zum ersten Mal Foto- und Videomaterial über die schon von vielen Geflüchteten, Aktivisten, NGOs und Reportern angeprangerten Verbrechen. Nun sind sie für alle sicht- und durch niemanden mehr bestreitbar. Nicht durch die Politik, nicht durch die EU-Kommission, nicht durch den griechischen Premierminister Mitsotakis und seine Partei Nea Demokratia, nicht durch die Täter selber, nicht durch griechische Polizei und Küstenwache, nicht durch Frontex und schon gar nicht durch die nationalen und internationalen Strafverfolgungsbehörden.
[1] Namen geändert
[2] Namen geändert