“Wir leben in einer Gesellschaft, in der Wissen gelehrt und Unwissen praktiziert wird; ja in der Tag für Tag gelernt wird, wie man systematisch ignorieren kann, was man weiß“, schreibt Harald Welzer in seinem kürzlich erschienenen Buch ‚Alles könnte anders sein‘.
Wie wahr das ist, zeigt uns jeden Tag der König der Lügen, Desinformation und des Unwissens, Donald Trump, der Regieren und Handeln wider besseren Wissens und wissenschaftlicher Erkenntnis auf eine ganz neue Stufe hebt.
So weit sind wir in Europa zum Glück noch nicht, obwohl es mit Boris Johnson nun auch innerhalb der EU einen Staatschef mit ähnlichen Kompetenzen gibt. Doch muss man kein Wahnsinniger sein, um sein Handeln von Fakten und Logik völlig abzukoppeln. Es genügt reiner Opportunismus, der immer mehr zum Grundmechanismus in der Politik wird, wo Politiker und Politikerinnen ihr Handeln an den Chancen ihrer Wiederwahl und nicht an Fakten oder Moral messen. Das Grundprinzip kennen viele von uns aus dem Alltag. Bei der Arbeit beispielsweise sind sich viele der Nutzlosigkeit mancher eigener Tätigkeiten vollkommen bewusst. Trotzdem ändert und sagt man nichts, um der Gefahr der eigenen Wegrationalisierung zu entkommen. So haben zum Beispiel in der Anonymität einer Umfrage 37 Prozent der Briten und Britinnen zugegeben, dass ihr Job keinen sinnvollen Beitrag zur Gesellschaft leistet; und das sind nur die Menschen, die es sich eingestehen können und auch wissen. Ihrem Chef gegenüber oder gar öffentlich würde das kaum jemand zugeben.
Warum spielen Tatsachen eine immer kleinere Rolle?
Nach der Aufklärung, der Säkularisierung, der Befreiung der Wissenschaften machen wir auf einmal wieder gewaltige Schritte weg von einer Gegenwart, auf deren Errungenschaften wir so stolz waren. In der wir Wissen noch immer als Wert hochhalten, aber unser Handeln immer weiter davon abkoppeln. Was haben wir für eine irrsinnige Welt geschaffen, in der wir Kinder und Jugendliche dafür verurteilen, dass sie während der Schulzeit demonstrieren (mal davon abgesehen, dass sie nicht demonstrieren, sondern ganz klar sagen, dass sie streiken und Streiken in der Freizeit macht nun mal keinen Sinn)? Wir halten ihnen vor, sie würden wichtigen Schulstoff versäumen, doch wird ihnen tagtäglich demonstriert, dass Wissen und Fakten keine Rolle spielen.
98 Prozent aller WissenschaftlerInnen und 100 Prozent aller seriösen WissenschaftlerInnen kommen zu dem Schluss, dass der aktuelle Klimawandel vom Menschen gemacht ist. Die Hiobsbotschaften diesbezüglich kommen aufgrund neuer Daten und Fakten in immer kürzeren Abständen: Vom Abschmelzen der Permafrostböden, die bereits heute und nicht wie angenommen erst 2090 auftauen, bis zum Tod von 2,5 Prozent aller Insekten pro Jahr und damit einem baldigen Ende der gesamten Spezies in ein paar Jahrzehnten. All das wissen wir und trotzdem handeln wir und unsere Regierungen nur zaghaft. Das ist nicht nur bei der Klima- und Umweltkrise der Fall. Bei praktisch allen ökonomischen, kulturellen, ökologischen und soziologischen Themen handeln wir entgegen dem wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Wissensstand.
Unser gesamtes Wirtschaftssystem ist auf Unwissenschaftlichkeit aufgebaut
Die Wirtschaftspolitik zum Beispiel, wurde mittlerweile von praktisch jedem Land der Welt auf das Trickle-Down-Prinzip ausgerichtet. Also der Theorie, dass die Reichen reicher werden müssen, da nur sie klug und nachhaltig investieren können und dies schlussendlich allen gesellschaftlichen Schichten zu Gute kommt. Davon abgesehen, dass Jahrzehnte dieser Politik nun bewiesen haben, dass dadurch wundersamerweise doch nur die Reichen immer reicher werden, und die meisten seriösen Ökonomen nie diese These vertraten, ist sie mittlerweile auch wissenschaftlich widerlegt. Sogar der IWF stellte fest: Werden Reiche reicher, sinkt das Wirtschaftswachstum. Einerseits, weil die Reichen für ihr Geld (Kredite) massive Renditen verlangen, die von der Realwirtschaft erarbeitet werden müssen. Andererseits, weil sie ihre Vermögen abseits der Realwirtschaft und des Staates unproduktiv in Steuersümpfen bunkern. Trotzdem verleiht Trump Arthur Laffer – einem der Erschaffer dieser Scharlatanerie, die der Menschheit viel Leid und Geld gekostet hat, einen Orden und marktradikale Parteien wie ÖVP, FPÖ und Neos folgen weiter dieser widerlegten Wirtschaftstheorie und auch die SPÖ und die Grünen sind sich noch nicht ganz sicher, ob sie wirklich nicht stimmt.
Wem nützt diese Unwissenschaftlichkeit?
Wie immer den Superreichen (die Oligarchen), die von der Klima- und Umweltzerstörung, von unserem Wirtschaftssystem, von den Kriegen, niedrigen Löhnen, Steuerhinterziehung, Medienkonzentration, usw. profitieren. Sie wären die großen Verlierer einer Politik, die vermehrt wissenschaftliche Erkenntnis als Grundlage für inhaltliche Entscheidungen heranziehen würde.
Deswegen stecken sie auch jährlich Millionen in Think Tanks, die „alternative Fakten“ produzieren, die von den Medien, die sich Großteils ebenfalls in der Hand der Reichen und Mächtigen befinden, unter die Leute gebracht werden. Kombiniert mit milliardenschwerem Lobbying und ein paar marktradikalen Parteien und schon hat man eine Politik, in der der wissenschaftliche Konsensus auf einmal nicht mehr so eindeutig erscheint.
Dann ist der Klimawandel plötzlich nur mehr eine Möglichkeit, die Evolutionstheorie nur mehr eine Theorie und es ist auch gar nicht mehr so klar, ob es gut ist, wenn Menschen für ihre Arbeit einen Lohn erhalten, von dem sie gut leben können.
Es war die letzte Chance der Eliten. Hätten sie das nicht getan, wäre es bald zum Konsens geworden, dass es auch von der wissenschaftlichen Ebene her keinen Grund gibt, Superreiche zu dulden. Dann hätten sich die Bürger und Bürgerinnen ihrer vielleicht genauso entledigt, wie sie es mit dem Adel davor gemacht haben. Diesmal aber vielleicht, durch die Wissenschaft ermutigt, endgültig.
Wissenschaft über alles?
Das soll kein Plädoyer sein, die Wissenschaft über alle anderen Entscheidungen zu stellen, aber wir müssen dort, wo es um wissenschaftliche Erkenntnissen geht, ihr eine viel stärkere Rolle in der Entscheidungsfindung geben. Denn nicht alles ist eine Meinungsfrage und auch nicht jede Meinung hat eine Berechtigung. Wichtige politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entscheidungen dürfen nicht nur von PolitikerInnen mit starken Meinungen, aber ohne Ahnung von der Materie getroffen werden. Schließlich lassen wir uns auch nicht von einer Person operieren, die zwar eine starke Meinung zu medizinischen Behandlungen hat, aber kein Chirurg ist. Wir brauchen eine neue Symbiose von Wissenschaft und Politik, die je nach Thema unterschiedlich starke Rollen spielen.